"Freie Presse" vom 26. Dezember 2024, von Matthias Zwarg
Er war einer der prägenden Akteure in der Wendezeit und auch danach. Am Montag ist der ehemalige Krumhermersdorfer Pfarrer Johannes Roscher im Alter von 71 Jahren gestorben.
So kannte man ihn: rötliches, langes Haar, roter Bart. Er konnte herzerwärmend lächeln, er konnte angesichts tatsächlicher oder von ihm so empfundener sozialer Ungerechtigkeit auch wütend und unnachgiebig sein. Er war dialogbereit, aber auch konsequent, wenn es darum ging, sozial Benachteiligte zu schützen, sich für sie einzusetzen.
Wenn es einen Politiker gegeben hat, der Jahre seit der Wende 1989/90 bis in die Gegenwart hinein im Erzgebirge geprägt hat, dann war es der ehemalige Krumhermersdorfer Pfarrer Johannes Roscher. Am 1. September 1953 geboren, gelernter Elektriker, sorgte er über Jahrzehnte dafür, dass die Erniedrigten und Beleidigten, von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten, Arbeitslose, Geflüchtete, auch abseits der großen Städte nicht vergessen werden.
Praktisch über Nacht über die Grenzen seines Dorfes bekannt
Bis zum Herbst 1989 kannten ihn vor allem Mitglieder der Krumhermersdorfer Kirchgemeinde und Mitglieder der christlichen Friedensbewegung - Aufnäher und Aufkleber der alten christlichen Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" gab es immer im offenen Roscherschen Haushalt. Praktisch über Nacht wurde Johannes Roscher über die Grenzen seines Dorfs bekannt. Als auch im Erzgebirge die Proteste gegen die verstaubte, veränderungsunwillige und -unfähige Politik der SED und ihres Gefolges aufflammten, gehörte er zu den Aktivisten, gründete das Neue Forum im Kreis Zschopau mit, half, ihm eine soziale und ökologische Prägung zu geben. Ihm wie vielen der damals Engagierten ging es darum, Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen zu beteiligen, die sie selbst betreffen, die Gesellschaft wahrhaft zu demokratisieren. Er wurde noch vor den ersten freien Wahlen zu einem Mitglied des Rates des Kreises "ohne Geschäftsbereich", und diese Bezeichnung erwies sich sehr schnell als zutreffend. Er konstatierte ernüchtert: "Ich spüre eigentlich nichts davon, dass Leute bewusster an ihrem gemeinsamen Schicksal teilnehmen. Ich denke eher, es ist ihnen relativ egal. Das hängt damit zusammen, dass nicht Sachlichkeit, sondern Stimmungen zählen und wirtschaftliche Macht." Über den Tag der Wiedervereinigung Deutschlands, den das Neue Forum mit dem Satz kommentierte: "Wir übergeben uns", sagte Roscher Jahre später: "Für den 3. Oktober 90 habe ich mir einen Anzug gekauft. Aber er passt mir nicht. Ich ziehe ihn ab und zu noch an, aber ich merke jedes Mal: Er passt mir nicht. Das ist so ein Symbol für mich. Es ist schon alles neu, und wir leben auch ganz gut und wir genießen das auch - aber passen tut`s nicht." Doch gerade dies war ihm Antrieb für weitere politische Betätigung.
2008 erhielt er das Bundesverdienstkreuz
Er war jahrelang Kreistagsabgeordneter, gründete schon zu Beginn des industriellen Niedergangs im Erzgebirge die Kirchliche Erwerbsloseninitiative Zschopau, die er bis 2019 leitete. Er war Beauftragter der Evangelischen Synode Deutschlands für Fragen der Arbeitslosigkeit, setzte sich schon früh für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ein. Dieses Engagement brachte ihm 2008 das Bundesverdienstkreuz, größtenteils die Achtung politischer Konkurrenten, aber auch zahlreiche Anfeindungen in der Region ein. Ungeachtet dessen kämpfte Johannes Roscher weiter, bis er sich in den letzten Jahren mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurückzog. Kurz vor seinem Tod zog er die Bilanz seines Lebens zwischen Enttäuschung und Zuversicht. Drei Jahrzehnte nach der Wende "lehrt die Einsicht aber auch, dass das Ergebnis am 3. Oktober 1990 das einzig erreichbare war, dass uns immerhin ohne Blutvergießen neue Perspektiven eröffnete. Wenn mein Engagement der letzten 30 Jahre auch beruflich den von Perspektivlosigkeit betroffenen Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten galt, lebt der alte Traum von einer solidarischen Gesellschaft weiter. Nein, er ist nicht ausgeträumt dieser Traum. Die Verwirklichung dieses Traums bleibt nachfolgender Generation aufgehoben." Welch schöneres Vermächtnis könnte es geben?
Am 23. Dezember ist Johannes Roscher gestorben, wie seine Familie mitteilte.
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